Sonntag, 11. August 2013

"Der emanzipierte Zuschauer": Eine Begriffsdefinition nach Jacques Rancière

Jacques Rancière, 2006.


Da wir uns in unserem Blog immer wieder die Frage nach dem „Zuschauer“ und dem „Beobachter“ gestellt haben, ist es jetzt an der Zeit, einmal theoretisch die Frage des „Zuschauers“ zu beleuchten. Ich möchte daher einige Gedanken äußern, die Jacques Rancière und seine Zuschauertheorie betreffen. Besprechen werde ich das erste Kapitel im seinem gleichnamigen Buch „Le spectateur émancipé“, das in der Originalausgabe im Jahr 2008 erschienen ist. Rancière eröffnet hier die Fragestellung nach dem Zuschauer mit einem Gedanken, der das Denken der Emanzipation zusammenbringen soll mit dem Problem des „spectateur“. Er kann unterschiedlichen Arten des theatralischen Schauspiels beiwohnen: Tanz, Performance, dramatische Handlung, Pantomime und anderen Darstellungen, bei denen sich ein Körper vor ein versammeltes Publikum bringt.

Sobald ein derartiges theatralisches Spektakel begann, gab es in seiner Geschichte zahlreiche Kritiken, die auf eine einfache Formel reduziert werden können, die Rancière das „Paradox des Zuschauers“ nennt. Dies fasst er wie folgt zusammen:
1. Ohne Zuschauer gibt es kein Theater. Das ist eine Voraussetzung
2. Der Zuschauer ist in diesem Zusammenhang ein absolut passives Wesen. Er steht einer Erscheinung gegenüber, deren Wirklichkeit und Herstellungsvorgang er nicht kennt. Er ist getrennt von der Fähigkeit der Erkenntnis und der Fähigkeit des Handelns.

Daraus haben sich zwei mögliche Schlussfolgerungen entwickelt:
1. Die Theorie, die bereits Platon aufgestellt hatte: Das Theater ist schlecht. Es bringt seine Zuschauer dazu, ihren Willen zu Erkenntnis und zum Handeln aufzugeben, zugunsten eines passiven Blicks auf leidende Menschen. Der Betrachter löst sich von sich selbst, er ist nur noch Sehender, der sich der Illusion hingibt.
2. Die Theorie der Kritiker der theatralischen Mimesis: Nicht das Theater selbst ist schlecht, sondern seine direkte Verbindung zum Zuschauer ist es. Zuschauer sein ist ein Übel und man muss das Theater von diesem Übel befreien. Es brauchte also ein Theater ohne passiven Zuschauer, ihre Körper sollten mobilisiert werden. „Man braucht ein Theater ohne Zuschauer, wo die Anwesenden lernen, anstatt von Bildern verführt zu werden, wo sie aktive Teilnehmende werden, anstatt passive Voyeurs zu sein.“

Aus der Theorie der Kritiker der theatralischen Mimesis haben sich wiederum zwei Lösungsansätze entwickelt, die unterschiedlicher nicht sein könnten und trotzdem immer wieder gerne vermengt werden:
1. Der Zuschauer als Detektiv. Man zeigt ihm ein ungewöhnliches, rätselhaftes Schauspiel, das der Zuschauer selbst entschlüsseln muss. Durch die Suche nach einem Sinn hinter dem Gesehenen und dem Grund für das Ungewöhnliche wird er sich von der Identifikation mit den Figuren lösen und seine Stumpfsinnigkeit und Passivität überwinden.
2. Der Zuschauer als distanzloser Handelnder. Die Distanz, die im ersten Lösungsansatz zwingend notwendig ist, muss hier abgelegt werden. Der Zuschauer soll nicht Beobachtender sein, sondern sich einer beispielhaften Situation gegenüber sehen, die ihn zum Handeln veranlasst und ihm hilft, sich weiterzuentwickeln im Treffen von Entscheidungen und Bewerten von Situationen.

Auch wenn diese beiden Lösungsansätze sich vollkommen entgegen zu stehen scheinen, so besitzen sie doch eine gemeinsame Prämisse, der sie folgen. Dabei handelt es sich um die Vorstellung, dass das Theater die lebendige Gemeinschaft verkörpert. Es ist eine Versammlung, in der die Menschen ihre Situation begreifen, ihre Interessen diskutieren und ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen. So lernt sich das Publikum auch selbst als Kollektiv kennen. Doch bleibt der Zuschauer in seiner passiven Rolle verhaftet, zeigt dies das Scheitern des Theaters und wofür es steht. Um dem entgegenzuwirken, die Zuschauer zu einer passiven Gemeinschaft zu machen und nicht mehr als Erkenntnis produzierendes Spektakel zu agieren, soll der Zuschauer die Mittel und Wege erlernen, sich aus dieser Lage zu befreien.
Die Krux dieser Situation wird deutlich, wenn man sich mit Rancière beschäftigt. Das Theater ist hier nämlich gleichzeitig Verursacher und Befreier der Situation des Zuschauers. Es möchte ihn aus der Passivität befreien, in die es ihn gedrängt hat und das wiederum will es durch das Spektakel selbst erreichen. Besonders deutlich macht dies Rancières Satz: „Im einen wie im anderen Fall stellt sich das Theater als eine Vermittlung dar, die auf ihre eigene Aufhebung ausgerichtet ist.“
Und eben dieser Sachverhalt ist es, der nach Rancière die Verbindung zur intellektuellen Emanzipation ermöglicht. Als Beispiel führt er die Schule an mit ihrem Verhältnis von Lehrer und Schüler. Der Lehrer versucht, den Schüler aus der Unwissenheit zu befreien, indem er mit ihm sein Wissen teilt. Wenn der Vorgang abgeschlossen ist, sollten idealerweise (und heute auch utopischerweise) beide das gleiche Wissen besitzen und somit hätte sich die Beziehung zwischen Lehrer und Schüler aufgehoben, beziehungsweise transformiert in eine Beziehung Gleichgestellter. Doch dies wird dem Schüler nie gelingen. Indem der Lehrer dem Schüler sein Wissen vermittelt, erschafft er jedes Mal erneut einen Abstand zwischen seinem Wissen und der Unwissenheit des Schülers. Denn erst durch den Lehrer wird dem Schüler seine eigene Unwissenheit bewusst, die sonst für ihn selbst nicht existent wäre. Und die Unwissenheit gilt in diesem Falle nicht als „weniger Wissen“ sondern wird zum „nicht Wissen“ degradiert. Eine Hierarchie des Wissens und der Wissenden kann sich auf diese Weise also etablieren. Auch Jacotot hat dieses System erkannt (von ihm „Verdummung“ genannt) und ihm die „intellektuelle Emanzipation“ entgegengesetzt. Demnach gibt es keine zwei ungleichen Intelligenzen (Wissen vs. Nicht-Wissen), sondern nur eine Gleichheit der Intelligenz. Der Mensch wird lernen, was er sieht, er wird verstehen, was ihn umgibt und was ihm geschieht. Und dabei geht es nicht um die Distanz zwischen zwei Intelligenzen, die abgeschafft werden soll (durch das Lernen vom Wissenden), sondern es handelt sich um Kommunikation. Denn wenn wir alle das Gleiche wissen würden, wäre eine Kommunikation überflüssig. Um diesen Zustand zu erreichen, muss der Lehrer, so Jacotot, seine Position als Wissender aufgeben. Er selbst darf nicht mehr meinen, die Distanz zwischen seinem Wissen und dem seines Schülers verringern zu müssen. Er soll seinen Schüler vielmehr anleiten, selbst zu lernen, zu sehen und zu verstehen. Nur so wird die Hierarchie des Wissens und der Wissenden durchbrochen und erlaubt eine intellektuelle Emanzipation.

Die Verbindung zwischen intellektueller Emanzipation und der Frage nach dem Zuschauer:
Ebenso wie Jacotots System der „Verdummung“ funktionierte auch der Versuch des Theaters, die Zuschauer aus ihrer passiven Rolle zu befreien. Die Theatertheorie unterlag bei der Annahme, „nur“ Sehen sei stumpfsinnig und nicht erkenntnisorientiert, ebenso einem Irrtum wie der Lehrer, der meinte, sein Schüler wisse „nichts“. Denn auch im Theater wird die Distanz zwischen Zuschauer und Handelndem, passiv und aktiv, sehen und erkennen/verstehen, die es aufheben will, erst vom Theater selbst erschaffen. Wer legt fest, dass das Sehen nur passiv funktioniert und nicht etwa ein aktiver Vorgang wie der der Erkenntnis ist? Und wer konstituiert, welche der beiden Zuschauerhaltungen nun die „Gute“ und die „Schlechte“ ist? Und warum kann Sehen nicht auch Erkenntnis sein? All das sind Kategorien, die erschaffen wurden und in Stein gemeißelt erscheinen, aber anstatt die Distanz abzuschaffen, schaffen sie sie erst. Entwickelt man Rancières Gedanken weiter, so müsste die intellektuelle Emanzipation auf der Ebene des Theaters wie folgt funktionieren: Das Theater und seine Theoretiker lassen ab von der Vorstellung, es gäbe „Sehen“ (Passiv) und „Erkennen/Handeln“ (Aktiv) als zwei unterschiedliche Kategorien wie „Nicht-Wissen“ und „Wissen“. Stattdessen erkennen sie die Gleichwertigkeit jener Zuschauerarten an und verstehen, dass die Distanz zwischen diesen beiden Vorgehensweisen allein von ihnen erschaffen und aufrecht erhalten wurde. Ähnlich wie der Lehrer sollte das Theater die Aufgabe übernehmen, dem Zuschauer beim Lernen zu helfen und ihn anzuleiten, aber ihn sich das Wissen/den Sinn des Gezeigten selbst aneignen lassen und seine Interpretation frei stehen zu lassen. Tatsächlich geht Rancière in seinem Text diesen Weg und beschreitet ihn noch weiter, indem er verdeutlicht, dass der Regisseur oder der Lehrer dem Schüler etwas Bestimmtes zeigen oder lehren um eine bestimmte Wirkung zu erzielen. Beide vergessen hier aber, so der Autor, dass das System von Ursache und Wirkung auf dieser Ebene nicht so vereinfacht funktioniert. Denn immer wird der Schüler oder Zuschauer das Gelehrte und Gezeigte abgleichen mit eigenen Erfahrungen und daraus möglicherweise eine andere Wirkung erhalten, als vom Regisseur oder Lehrer beabsichtigt.
Rancière untersucht auf den folgenden Seiten ebenfalls noch das Verhältnis von Zuschauer, Theater und Gemeinschaft. Da es mir aber hauptsächlich um eine Definition und Verdeutlichung des Zuschauerbegriffs Rancières an dieser Stelle geht, möchte ich auf diese weitergehende Fragestellung nicht näher eingehen. Es war mir wichtig, einmal diesen für uns (Lara und Liza) so wichtigen Begriff zu erläutern und ein Konzept vorzustellen, das ein französischer Philosoph durchaus gut durchdacht hat und mir in vielerlei Hinsicht schlüssig erscheint. Ich möchte damit nicht die Meinung Rancières vertreten, aber ich muss sagen, dass sich einem seine Theorie deutlich und klar erschließt und wunderbar ineinander greift.


Liza

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